Was bedeutet Wandern?

Als ich Kind war, musste ich mit meinen Eltern wandern gehen. Mein Vater war ein begeisterter Wanderer. Er war so begeistert, dass er nicht mitbekommen hat, dass ich gar kein bisschen begeistert war. Ich habe meine Eltern manchmal dafür gehasst, dass ich zum Beispiel auf so schräge Pilgerwanderungen nach Kamp-Bornhofen mit musste. Meine Schwestern waren auf jeden Fall nicht dabei, nur ich. Und das waren dann so wirkliche Büßertouren mit 30 oder 35 Kilometern. Es gab einen Megaphonträger, der ein Ledergeschirr umhatte, um den Lautsprecher zu tragen, so dass alle den Priester hören konnten, um gemeinsam im Wechselgebet den Rosenkranz zu beten. Ich kann mich noch an eine Wanderung erinnern, wo ich ab km 25 wahnsinnige Knieschmerzen bekommen habe und das seitens meiner Eltern (in meiner Wahrnehmung) völlig ignoriert wurde. Und in dem Knie (rechts) habe ich jetzt auch Probleme. Ob es da einen Zusammenhang gibt?? Anyway, ich war geprägt. Wandern ist Bäh.
Warum gebe ich jetzt Wanderworkshops? Was ist passiert, dass sich dieses Bäh gewandelt hat? Das fing mit einer Grenzerfahrung an, die ich im Jahr 1997 in Berlin gemacht habe. Ich wurde von einer guten Freundin darauf aufmerksam gemacht, dass Anfang Oktober in Berlin ein Straßenretreat stattfindet. Ein Straßenretreat ist eine Form der Achtsamkeitspraxis. Sie stammt von Glassman Roshi. Ich hatte bis dahin schon oft Rereats besucht und auf dem Kissen oder Bänkchen gesessen, meditiert und mich in Achtsamkeit geübt, jedoch einer solchen Herausforderung hatte ich mich bis dahin noch nicht gestellt. Worin bestand die Herausforderung genau? Straßenretreat bedeutet ein Retreat auf der Straße zu machen. Nein, diesmal kein buddhistisches Seminarhaus, mit all den Annehmlichkeiten eines schönen Zendos, den warmen Duschen, den bequemen Betten, den leckeren vegetarischen Mahlzeiten, sondern die Straße. Und ja, könnte man jetzt denken, wir haben alle unsere Jobs, dann kaufen wir uns doch mal schnell eine neue Outdoorausrüstung dafür. Nix da. Weit gefehlt. Die Bedingungen waren:
  • Erzähle jedem in Deinem Bekanntenkreis von Deinem Vorhaben und bitte Sie um Geld. Sammle 1080 DM.
  • Dusche und Rasiere Dich 5 Tage vor Beginn des Retreats nicht.
  • Zieh nur Deine ältesten Klamotten an.
  • Nimm kein Geld mit, nur Deinen Personalausweis.
Wir waren eine Gruppe von 14 Menschen, die sich auf dieses Abenteuer eingelassen haben. Als ich in Berlin ankam, ging mir gehörig der Stift: Unbekannte Menschen und keine Ahnung, was da auf mich zukommt. Das Retreat fing morgens mit einem Tag der Reflexion an, an dem wir gemeinsam mit anderen Menschen einen Achtsamkeitstag verbracht haben. Um 17:00 Uhr war es dann so weit – wir Retreatteilnehmer machten uns auf den Weg. Es ging in Richtung Hasenheide. Dort standen so eine Art Holzpilze, also ein Stamm in der Mitte, der ein rundes Dach trägt. Hier waren wir vor dem Regen geschützt, jedoch nicht vor dem Wind. Unterwegs dorthin hatten wir schon auf der Suche nach Pappen als Matratzenersatz, den ein oder anderen Altpapiercontainer durchwühlt. Jetzt, wo ich das schreibe,  kann mich noch genau an diese Nacht erinnern. Es war Anfang Oktober und es war ca 5-7 C Celsius, also echt kalt für einen unerfahrenen Obdachlosen. Ich habe zum ersten Mal mit einem Mann gelöffelt. Martin aus Hamburg. Uns war einfach nur kalt und wir haben in der “Not” unsere Homo-Vorbehalte über Bord geworfen oder soll ich sagen, die Mauern, die uns normalerweise trennen, abgerissen und uns gegenseitig gewärmt. Das war so einprägsam, dass ich mich noch an den Namen erinnere.
Warum erzähle ich das, was hat das mit Wandern zu tun. Naja, während des Straßenretreats sind wir in kleinen Gruppen tagsüber durch Berlin gezogen. Da sind wir locker 10 – 12 km gewanderspaziert. Über dieses Straßenretreat wurden einerseits meine Vorbehalte, die ich gegenüber dem Wandern hatte, langsam abgebaut. Ich habe es genossen so unbeschwert unterwegs zu sein. Ich war ja “obdachlos” auf Zeit und habe eine Ahnung davon bekommen, wie es ist, wenn man nichts besitzt und einen nichts besitzt. Trotz der Umstände, dass wir bettelten, dass wir z.T. abgewiesen oder ausgelacht wurden und dass wir kein Dach über dem Kopf hatten, stellte sich ein Gefühl von Leichtigkeit ein.
1999 hat der Mensch, der das Straßenretreat geführt hat, eine Pilgerwanderung durch Deutschland angeführt. Das hat mich auch total fasziniert und so nahm ich an dieser Pilgerwanderung durch Deutschland teil. Die Bedingungen waren fast identisch. Außer dem Rasieren und Duschen. Das hat sich umständehalber manchmal unterwegs so ergeben. ;-) Auch hier mussten wir im Vorfeld Geld erbetteln und jedem in unserem Bekanntenkreis davon erzählen und wir durften auch hier kein Geld sondern nur unseren Personalausweis mitnehmen. Das erbettelte Geld wurde einem guten Zweck gespendet und diente nicht dazu Unterkunft und Verpflegung davon zu bezahlen. Wir waren unterwegs sozusagen mittellos und in Ungewissheit, wo wir am nächsten Tag übernachten können. Die ganze Pilgerwanderung ging von Berlin bis Trier, ca. 1200 km. Ich bin in Chemnitz zu der Gruppe gestoßen und mein ursprünglicher Plan war, 10 Tage bis Weimar mitlaufen. Tja, dann habe ich in dieser Zeit mit dem Rauchen aufgehört und erkannt, dass in dieser Wanderung echtes Transformationspotential für mich steckte. Also habe ich alles drangesetzt, um den Rest der Strecke mitzupilgern Aus 100 km wurden 700 km. Diese 700 km haben mein Leben transformiert. Hört sich groß an, ist es auch. Ich bin auf die Pilgerwanderung gegangen in einer Phase meines Lebens, in der ich sehr orientierungs- und antriebslos war. Mein Studium dümpelte so vor sich hin, ich war völlig unstrukturiert und hatte überhaupt keine Idee, wo es mit mir hingehen sollte. Da hat der Satz: “Wenn Du die Dinge anders haben willst, dann musst Du sie auch anders tun. wirklich eine Bedeutung für mich bekommen. Die Dinge anders getan habe ich auf jeden Fall während der eineinhalb Monate, die ich vom 01. September bis Mitte Oktober  1999 auf Pilgerwanderung war.