„Achtsamkeit verstehen erfordert erleben, was Achtsamkeit ist“

Immer wieder höre ich abfällige und entwürdigende Bemerkungen über Achtsamkeit im Allgemeinen oder über spezielle Achtsamkeitsübungen. Da wird das In-Sich-Hineinspüren oder das Sich-Selber-Neutral-Beobachten ins Lächerliche gezogen. Oder das Verfolgen des eigenen Atemfluss wird als spiritueller Nonsens abgetan. Oft von Menschen, die mit ihren unmittelbaren Problemen völlig identifiziert sind. Diesen Menschen fällt es schwer, Offenheit gegenüber einer Technik  zu zeigen, die langsam und leise ist. Behutsam. Achtsamkeit steht im diametralen Gegensatz zu den populären Instant-Problem-Lösungen, wie sie in den Social-Media-Kanälen propagiert wird. Sie ist ein absoluter Gegenpol zur nach außen hin gerichteten Wahrnehmung. Es gibt in der Achtsamkeit als korrekt angewandtes Werkzeug kein Fake, sondern das ehrliche Beobachten und Wahrnehmen im gegenwärtigen Moment. Sie ist die  Einladung,  einen Schritt zur Seite zu treten und sich aus einer Beobachterperspektive zu betrachten. Die Einladung, einen Abstand zwischen sich und seine Gedanken zu bringen oder zwischen sich und seine emotionale Befindlichkeit. Und dabei zu erkennen, dass es darüber hinaus noch mehr zu entdecken gibt. Achtsamkeit ist das Werkzeug, was in diesen Zeiten am dringendsten benötigt wird. Und es braucht etwas Geduld, um die Benefits dieser Technik zu erkennen und zu spüren.

„Achtsamkeit verstehen erfordert erleben, was Achtsamkeit ist“

ABER: Achtsamkeit macht einem bewusst, wie absorbiert man ist. Ähnlich dem Taubheitszustand nach exzessiven Drogenkonsum. Wo man völlig lala im Kopf  ist und alles nur matt und undeutlich wahrnimmt. In diesem Zustand verliert man völlig den Blick und das Empfinden für den unmittelbaren Augenblick.

Wer keine Offenheit hat, sich selber ehrlich zu begegnen, wer denkt, dass man alles über sich und andere weiß, wer glaubt, dass man den Durchblick hat, dem kann die Achtsamkeitspraxis richtig den Tag vermiesen.

Diese abwertende und abwehrende Haltung habe ich meistens bei Männern beobachtet. Bei Frauen auch, aber weniger. Männern fällt es schwerer sich selber zuzuwenden. Und zwar mit Güte. Zumindest kenne ich das von den Männern aus meiner Generation. Hier stehen Leistung, Performance, Kraft, Virilität, Standpunkt, Konkurrenz, generell Messbarkeit im Fokus. Mir geht es hier nicht darum, diese Qualitäten schlecht zu reden. Die gehören zu uns und das ist gut so. Aber nicht nur. Vulnerabilität, Weichheit, Leise-sein, Offenheit, Neugier, Unvoreingenommenheit, Wahrnehmung, Natur-Verbundenheit und Dialog sind Qualitäten, die zum männlichen Leben unbedingt dazugehören sollten.

Männer denken oft, ihre persönliche Entwicklung sei an einem bestimmten Punkt abgeschlossen. Keinesfalls. Es geht immer weiter. Aber das macht vielen Männern Angst, denn sie haben dann das Gefühl ungenügend zu sein.
Es gibt keine Blaupausen für eine männliche Achtsamkeit. Männern fehlt das Ventil den Druck aus dem Ist-Zustand zu nehmen und sich anerkennend und liebevoll selbst zu betrachten. Es gibt kaum Räume, in den Männer schamfrei und offen im Moment sein können. Meist sind sie allein damit. Es braucht einen anderen, männlich-orientierten Zugang zur Achtsamkeit. Mit anderen Männern. Mir geht es hier nicht um die Trennung von weiblich und männlich. Ich plädiere nur dafür, dass die Energie des Mannes sowohl in ihrer kraftvollen als auch in ihrer sanften Ausprägung einen Platz findet. Balance. Leise UND laut. Hart UND weich. Grenzen setzen UND Vulnerabilität. Kompromiss UND Standpunkt.
So, wie jeder Gedanke im Geist willkommen ist und ohne Bewertung bleibt, so sind die Gegensätze zwischen männlichen und weiblichen Qualitäten in der Achtsamkeit willkommen. Die Aufgabe dabei ist, dass alles in BALANCE zu bringen. Ohne Hierarchie.
Nur das eine/weibliche oder nur das andere/männlich führt weiter zu Krieg. Davon haben wir genug.

Neulich war ich im Kino. Auf dem Weg. Ein Wanderfilm aus Frankreich. Ich war allein unterwegs und stand vor dem Kino, als ich mit einem Mann ins Gespräch kam, der auf seine Frau wartete. Er machte mich darauf aufmerksam, dass das Thema Wandern völlig von Frauen besetzt sei. Er sagte, ich solle mich mal umschauen und zählen wieviel Frauen da seien. Es waren gefühlt tatsächlich nur Frauen vor und im Kino. Maximal 10% Männer waren da. Tatsache.

Obwohl ich  ein ähnliches Verhältnis aus meinen Seminaren kenne, war ich doch erschüttert. Und meine Gesprächspartner erzählte von seiner Frau, die Pilgerberaterin sei, dass sie die meisten Beratungen für Frauen mache, die pilgern wollen.
Der Archetyp des Wanderers steht für Aufbruch und Neuanfang und Wandel.
Das hat mich nachdenklich gemacht und ich habe mich gefragt, warum so viele Frauen und so wenige Männer in dieser Thematik drin sind.
Es braucht Wandel!

Freue mich über Rückmeldungen.